Schillers Weg zur Klassik: Freiheit und Kunst

Schillers Weg zur Klassik: Freiheit und Kunst
Schillers Weg zur Klassik: Freiheit und Kunst
 
Im Juli 1787 traf Schiller in Weimar ein, in gespannter Erwartung der »Weimarischen Götter und Götzendiener«. Rasch lernte er Wieland und Herder kennen; Goethe war noch in Italien. Die Herausforderung konnte größer nicht sein. Schiller nahm Maß. Nicht weniger wollte er als »Größe, Hervorragung, Einfluss auf die Welt und Unsterblichkeit des Namens«. Sein Weimarer Entreebillett war der gerade erschienene »Don Karlos«. Klassizistisch in Jamben gefasst, stellte dieses Stück bereits eine Wende in Schillers Schaffen dar. Wilde Spiele von Größe und Macht hatte der Stuttgarter Eleve und der Mannheimer Flüchtling hervorgebracht. »Die Räuber« - ein Schrei nach Freiheit, Größe und Rache. »Fiesko« - ein Usurpator, der unbekümmert um die republikanische Freiheit nach der Macht greift. »Kabale und Liebe« - ein »Dolchstoß in das Herz des Absolutismus«, zugleich die Tragödie einer Liebe, die sich bis zur Gottgleichheit aufschwingt. Der »Don Karlos« bändigt das Aufbegehren und bringt es moralisch und politisch in Form. Die Gestalt des Marquis Posa pflanzt dem »Familiengemählde in einem fürstlichen Hause« eine Philosophie der Menschenrechte ein - »Geben Sie Gedankenfreiheit« -, die unmittelbar Hoffnungen des vorrevolutionären Jahrzehnts ausdrückt.
 
Doch nicht die Poesie, sondern die Historie beschäftigte Schiller in Weimar. Die Sorge um die bürgerliche Existenz war unabweisbar; schon bald hegte er Heiratspläne. Die »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« brachte ihm durch die Vermittlung Goethes eine außerplanmäßige und schlecht besoldete Professur in Jena ein. Noch 1790 spielte er mit der Aussicht, »der erste Geschichtschreiber in Deutschland« zu werden. Am 26. und 27. Mai 1789 hielt er in Jena seine Antrittsvorlesung: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« Der philosophische Kopf, so die Botschaft, hat teil an der Universalgeschichte der Menschheit, ist ihr Subjekt, übernimmt das »reiche Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit«, führt die Fortschrittsgeschichte des Menschengeschlechts aus. Wie fügt sich diesem Konzept die Kunst und die Poesie ein? Das Programm, dem sich Schiller in der Folge verschrieb, entfaltet das große Gedicht »Die Künstler« (1789): »Nur durch das Morgentor des Schönen / Drangst du in der Erkenntnis Land.« Der Mensch ist das Wesen, das Kunst hat und erst durch Kunst wahrhaft Mensch wird. Diese kulturstiftende Kraft des Schönen verfolgt das Gedicht durch die Geschichte, bis aus der Führerin die Zielgestalt, die Vollenderin wird. Besser kann man die Kunst und den Künstler nicht legitimieren.
 
Im Frühjahr 1791 brach die schwere Krankheit aus, die Schiller fortan zeichnete und ihn zum »kranken Klassiker« machte. Daneben waren es intellektuelle Herausforderungen, die ihn von der Dichtung fernhielten. Die wohl größte stellte Kants Philosophie dar, wie sie in Jena die Köpfe beherrschte. Auf allen Gebieten trieb man jetzt Elementarphilosophie. So wollte auch Schiller für sich eine »Geistesrevolution«, wollte »die wirksamste aller Triebfedern des menschlichen Geistes, die seelenbildende Kunst, zum Rang einer philosophischen Wissenschaft« erheben. Er kämpft gegen die Rangminderung an, die Kant dem ästhetischen Urteil zumutet, indem er es »ein bloßes subjektives Spiel der Einbildungskraft« nennt. Dagegen erklärt er: »Auch die Schönheit, dünkt mir, muss wie die Wahrheit und das Recht auf ewigen Fundamenten ruhn«. Und schon bald glaubt er, in den »Kallias«-Briefen, den »objectiven Begriff des Schönen. .., an welchem Kant verzweifelt«, gefunden zu haben. Der »Ritter« der Ästhetik wollte Kant überbieten. Sein Interesse war nicht so sehr transzendentalphilosophisch wie anthropologisch. Schillers Ästhetik ist Freiheitsphilosophie im Zeichen des »ganzen Menschen«. Schon die erste große Abhandlung »Über Anmut und Würde« stößt sich deshalb an Kants unerbittlichem Pflichtbegriff. Im Ideal der »schönen Seele« sieht Schiller die Harmonie von »Sinnlichkeit und Vernunft«, von »Pflicht und Neigung«; »Grazie« ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. An dieser Harmonie stiftenden, die Doppelnatur des Menschen ausgleichenden Kraft orientiert Schiller seine Philosophie des Schönen. Sie entwirft das utopische Ideal des Menschseins. Ihr zur Seite und mit ihr in Konkurrenz tritt freilich - wie zur »Anmut« die »Würde« - eine Ästhetik und Anthropologie des Erhabenen, die die Freiheit des Geistes gerade im Kampf mit Sinnenwelt und Sinnlichkeit behauptet und dabei die Entzweiung des Menschen nicht aufhebt, sondern sogar noch verschärft: »Die Schönheit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muss man erhaben zu rühren suchen.« Der Tragiker Schiller schlug diesen Weg ein. Von seiner Geistesstatur her war er von Anfang an Idealist. Die Krankheit mochte ihn darin bestärkt haben.
 
Unverkennbar war es das Gefühl der Unterlegenheit, das den mühseligen Aufsteiger von Goethe lange Zeit fernhielt. Die Äußerungen des Ehrgeizigen verraten zugleich Anziehung und schroffen Widerstand: »Eine ganz sonderbare Mischung von Hass und Liebe ist es, die er in mir erweckt hat, eine Empfindung, die derjenigen nicht ganz unähnlich ist, die Brutus und Cassius gegen Caesar gehabt haben müssen.« »Dieser Mensch, dieser Goethe, ist mir einmal im Wege, und er erinnert mich so oft, dass das Schicksal mich hart behandelt hat.« Goethe seinerseits zeigte keine Neigung, sich dem Autor der verhassten »Räuber« zu nähern. Erst im Juni 1794 brach das Eis. Nach einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena geriet man ins Gespräch. Goethe berichtet darüber in dem Essay »Glückliches Ereignis«. Die Differenz beschönigt er keineswegs: eine »ungeheure Kluft« klaffte »zwischen unsern Denkweisen«, »mehr als ein Erddiameter« lag »zwischen zwei Geistesantipoden«. Man spricht über Goethes Lieblingsgedanken, die Urpflanze. Und schon bricht die Differenz wieder auf. Der Kantianer Schiller erklärt: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« Goethe hält dagegen: »Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.« Der Idealist und der hartnäckige empirische »Realist« stehen sich gegenüber. Doch jetzt übernimmt Schiller in unnachahmlicher Noblesse die Rolle des Werbenden. Am 23. August 1794 schrieb er an Goethe einen Geburtstagsbrief, der souverän die Summe von Goethes Existenz und Geistesart zieht. Damit war das klassische Bündnis der beiden begründet. Es bewährte sich in einer Fülle von mündlichen und brieflichen Werkstattgesprächen, in gemeinsamen Arbeiten (»Xenien«, »Über epische und dramatische Dichtung«, »Balladenalmanach«), in der Verständigung über die Prinzipien der Kunst. Rückhaltlos huldigte Schiller jetzt dem Dichtergenie des Freundes, so in der Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung«. Die dort entworfene Typologie rechtfertigt freilich auch sein eigenes Ingenium, die »unbedingte Freiheit des Ideenvermögens«, die sich der modernen Entzweiung von Ideal und Wirklichkeit stellt und die Annäherung an das Ideal als unendliche Aufgabe begreift.
 
Nicht zuletzt unter dem Einfluss Goethes schloss Schiller 1795 »die philosophische Bude«. Es entstanden die großen Gedankengedichte (»Das Ideal und das Leben«), die Elegien (»Der Spaziergang«), die Balladen. Die Arbeit am »Wallenstein« konnte beginnen.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
 
Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 21998.
 
Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789. Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München 1990.
 Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789—1806. Band 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. 1806—1830. München 1983—89.

Universal-Lexikon. 2012.

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